Was verraten nicht-narrative Darstellungen in biographischen Interviews? Zur moralischen Rechtfertigungs- und Entlastungsrhetorik in verbalen Selbstauskünften
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Abstract
Das Augenmerk des vorliegenden Beitrages liegt auf den nicht-narrativen Darstellungsformaten in qualitativen Interviews, den Beschreibungen von Routineabläufen bzw. allgemeinen Sachverhalten sowie den mit Stilmitteln der Argumentation vorgetragenen Einschätzungen und Bewertungen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Personen, denen der Makel devianter oder gesellschaftlich nicht geduldeter Verhaltensweisen anhaftet, in narrativ-biographischen Interviews zu beschreiben und komplex zu argumentieren anfangen, ohne dass sie dazu von den Interviewenden explizit aufgefordert werden. Zudem zeigt sich, dass sich die Interviewten in ihre nicht-narrativen Äußerungen „verstricken“. Entsprechende Interviewsequenzen entfalten eine Eigendynamik, die sich ihrer Kontrolle weitestgehend entzieht. Gezeigt wird, dass solche in den Selbstauskünften verwendeten Textsorten der Beschreibung und Argumentation eine performative Funktion haben. Die nicht-narrativen Äußerungen ermöglichen den Interviewten, die „eigene Geschichte“ zu verbalisieren, ohne in kognitive Dissonanzen zu geraten und sich moralisch schuldig zu fühlen. Die bei dieser performativen Selbstpositionierung genutzten Entlastungs- und Rechtfertigungsrhetoriken werden anhand von geführten Interviews mit Angehörigen einer in der Bundesrepublik diskreditierten und stigmatisierten Personengruppe aufgezeigt – den hauptamtlichen Mitarbeiter*innen des DDR-Geheimdienstes. Plädiert wird in dem Beitrag dafür, Beschreibungen und Argumentationen in qualitativen Interviews parallel zu den narrativen Interviewpassagen methodisch kontrolliert zu dechiffrieren und theoretisch-analytisch zu durchdringen. Solche nicht-narrativen Interviewpassagen sind als authentische Selbstauskünfte und integrale Bestandteile einer kohärenten autobiographischen Lebensgeschichte der Interviewten zu bewerten. Grundlagentheoretisch mit Rekurs auf Bourdieu lässt sich behaupten: Im qualitativen Interview manifestiert sich der Habitus einer befragten Person.
Bibliographie: Krähnke, Uwe: Was verraten nicht-narrative Darstellungen in biographischen Interviews? Zur moralischen Rechtfertigungs- und Entlastungsrhetorik in verbalen Selbstauskünften, BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 1+2-2024, S. 138-156.
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