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Gewissen ohne Geländer? Normative Selbstregulation als politisches Phänomen

Renate Martinsen

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Abstract


Zusammenfassung

Trotz des zunehmenden Bedarfs an ethischer Orientierung in der Gegenwart spielt das Gewissen als politisch-gesellschaftlicher Selbstverständigungsterminus kaum mehr eine Rolle. Die Gewissensformel wird öffentlich marginalisiert als Teil einer unverbindlichen Appellationskultur, deren Relevanz allenfalls noch im bloß privaten Bereich anzusiedeln ist. Von politikwissenschaftlicher Seite gibt es dementsprechend keine eingehendere Befassung mit dem Gewissensbegriff. Diese Forschungslücke, so die These, ist symptomatisch für die vorherrschende Inkonsequenz der politischen Ethik, welche die Notwendigkeit einer Aufklärung der Aufklärung zwar erkannt hat, aber bei der erforderlichen Reflexion der Grundbegrifflichkeiten der Disziplin auf halbem Wege stecken bleibt und sich nicht von den Denkmustern des 18./19. Jahrhunderts zu lösen vermag. Die klassischen Diskurse des Gewissens, wie sie mit Bezug auf Kant und Hegel vorgestellt werden, sind dem Paradigma der Allgemeinheit verpflichtet – sie beruhen auf sozio-strukturellen Voraussetzungen, deren Geltungsbasis sich im 21. Jahrhundert bereits seit geraumer Zeit in einem Erosionsprozess befindet. Mittels der Analyse post-klassischer Gewissensdiskurse von Luhmann, Bauman und Foucault lässt sich zeigen, dass das Gewissensphänomen gegenwärtig sehr viel komplexer zu konzeptualisieren ist und einen genuin politischen Charakter aufweist. Plädiert wird schließlich für eine politologische Aufklärung, die die Grenzen des Wissens mit in die Theoriebildung einbezieht: denn Wissen und Ge-wissen sind konstitutiv miteinander verbunden.

Schlüsselwörter: Gewissen, Moral, politische Ethik, Bioethik, Selbsttechnologien, Aufklärung, Konstruktivismus


Literaturhinweise