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Entfremdung als Strukturmoment von Unterricht? Eine Fallstudie zur Arbeit eines Schülers an der Tafel aus der Sicht der pädagogischen Unterrichtsforschung

Johannes Twardella

Volltext: PDF

Abstract


Zusammenfassung

In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts beobachtete Jules Henry im Rahmen seiner ethnographischen Schulforschungen die Arbeit eines Schülers an der Tafel und interpretierte sie aus einer sozialpsychologischen Perspektive heraus als einen Prozess, in dem ein Schüler lernt, was „Entfremdung“ ist. Ausgehend von dieser Deutung wird in dem vorliegenden Aufsatz der Frage nachgegangen, ob der Begriff der Entfremdung auch heute noch für die Erforschung von Unterricht fruchtbar gemacht werden kann. Dies geschieht im Rahmen einer Fallanalyse, bei der eine ähnliche Szene (die in einem Unterrichtstranskript festgehalten wurde) mit Hilfe der Methode der objektiven Hermeneutik zum Gegenstand der Analyse gemacht wird. Am Ende zeigt sich, dass die sozialpsychologische Perspektive nach wie vor wichtig zum Verstehen einer solchen Szene ist: Durch jede schulische Aufgabe werden Schüler/innen mit einer Herausforderung konfrontiert, an der sie sich bewähren können, mit der aber auch die Möglichkeit des Scheiterns für sie verbunden ist. Durch den Erfolg können sie in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, durch ein Scheitern hingegen frustriert werden. Aus einer pädagogischen Perspektive heraus gesehen wird darüber hinaus aber auch deutlich, dass Entfremdung eine notwendige Voraussetzung für Bildungsprozesse ist: Nur wenn Schüler/innen sich auf etwas für sie Fremdes einlassen, können sie in eine Krise des Verstehens geraten, die eine notwendige Voraussetzung für Bildungsprozesse ist. Entfremdung kann aber auch das Resultat misslungener Bildungsprozesse sein, wenn nämlich didaktische Hilfestellungen primär dem Zweck dienten, dass schließlich ein richtiges Ergebnis an der Tafel steht (damit im Unterricht weiter fortgefahren werden kann), und nicht dazu beitrugen, dass die Schüler/innen die „Sache“ verstehen und wieder zu sich zurückkehren können. Anders gesprochen: Aufgrund des besonderen Settings – vor der Klassenöffentlichkeit findet eine Kommunikation zwischen dem Lehrer und einem Schüler über eine Aufgabe statt – werden in der analysierten Szene die Strukturprobleme von Unterricht wie unter einem Brennglas deutlich: wie im Unterricht Schüler/innen durch die Konfrontation mit ihnen Fremdem in eine Krise des Verstehens geraten können; wie mittels didaktischer Bemühungen versucht wird, einen Prozess der wechselseitigen Erschließung von Schüler und Gegenstand in Gang zu bringen; wie das Bildungsproblem, vor dem Schüler/innen stehen, letztlich nicht gelöst, der Unterricht aber dank der Didaktik – hier durch die radikale Herabsenkung des Anforderungsniveaus – zu einem abschließenden Ergebnis geführt werden kann. Während in den meisten anderen Fällen die Konsequenzen dieser Strukturprobleme kaum sichtbar werden, treten sie bei dem ausgewählten Beispiel in aller Deutlichkeit zu Tage. Sie haben zur Konsequenz, dass die Schüler/innen letztlich unmündig bleiben.

Schlagworte: Unterrichtsforschung, objektive Hermeneutik, Arbeit an der Tafel, Theorie des Unterrichts

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Estrangement as a structural element of teaching? A case study on the work of a pupil at the blackboard from the perspective of educational research on teaching

Abstract

During the 70’s of the 20th century, Jules Henry observed, within the framework of his ethnographic school research, a schoolboy who was working at an assignment on the blackboard. Henry interpreted it from a social psychological perspective as a process in which a schoolboy learned what “estrangement” means. During the course of this essay based on this interpretation, the question will be followed if the term “estrangement” for the study of school lessons can still be made productive today. This will be done within the framework of a case analysis, in which a similar scene (which was preserved in a transcript of a lesson), can be made an object of analysis with the aid of the objective hermeneutic method. At the end it is shown, that the social psychological perspective is, as before, important for understanding such a scene: By means of every school assignment, pupils will be confronted with a challenge by means of which they can either prove themselves, or, which is possibly connected with failure. If they are successful, their self confidence will be strengthened, or, on the other hand, be frustrated through failure. From an educational perspective, it will be further clearly seen that estrangement is a necessary prerequisite in the educational process: Only if the school children allow admittance to that which is foreign to them, can they enter a crisis of understanding, which is a necessary prerequisite for the educational process. Estrangement can also be the result of a failed educational process, if namely, didactical assistance only serves the purpose of having the right result on the blackboard (so that the school lesson can be continued), and not contributing to the pupil understanding the “matter” itself and returning to themselves again. Putting it another way: Due to special settings – in front of a classroom audience whereby a communication between the teacher and a pupil over an assignment is taking place – the scene being analysed is, as if being viewed through a magnifying glass, the structural problem of the lesson being made clear: just as in the school lesson, the pupil is confronted with something foreign to him or her, leading to a crisis of understanding; as if, by means of didactical efforts, a process of mutual development between pupil and subject to be set in motion is being sought after; just as when, after all, the educational problem of which the pupil is confronted, is in the end not solved, but the lesson, thanks to didactics – here through the radical reduction of the requirement level – can be led to a concluding result. While in most of the other cases the consequences can be hardly noticed, in the example selected, they come to light. They carry the consequence that the pupils remain minors.

Keywords: educational research, objective hermeneutics, work at the blackboard, theory of teaching


Literaturhinweise